Wie sinnvoll sind Gewohnheiten?
Eine Untersuchung
Dieses Thema ist ein heißes Eisen und wird meiner Meinung nach gern beschönigt und als Notwendigkeit betrachtet. Wieviele Coachs, Trainer und Berater empfehlen ihren Kunden klare Strukturen, zeitliche Ablaufpläne, Regelmäßigkeit, Wiederholungen… Ganz nach dem Motto: „Lass es dir zur Gewohnheit werden.“
Wieviele Menschen glauben wohl, dass es erstrebenswert ist, Gewohnheiten zu entwickeln?
Gute Gewohnheiten natürlich! Die schlechten Gewohnheiten will man gern loswerden und jedes Jahr zum Jahreswechsel nehmen sich unzählige Menschen vor – ab nächstes Jahr nicht mehr Dies oder Das zu tun. Mit wie viel Erfolg?
Schauen wir uns also mal an, was es mit Gewohnheiten auf sich hat. Wozu sind sie gut und wo Schaden sie mehr, als sie uns nützen? Wie erschaffen wir sie und wie sehr sind wir Sklave unserer Gewohnheiten? Wann wird Gewohnheit zur Sucht?
Mich beschäftigt diese Sache schon mein Leben lang, weil ich eine Art Allergie habe, gegen Gewohnheiten jeder Art. Gleichzeitig war meine Erfahrung, dass alle mir ständig suggerierten, es wäre wichtig und richtig, bestimmte Dinge täglich und regelmäßig zu wiederholen. Schon als Kind erlebte ich das als unangenehmen Zwang, es war mir unverständlich, wieso ich jeden Tag zur gleichen Zeit in den Kindergarten musste, egal ob es regnet oder schneit, oder noch dunkel ist, oder ich müde bin – egal was wirklich war, es musste sein. Und so musste ganz vieles sein, was mir nicht gefiel und für mich nicht stimmte.
Ich dachte, wenn ich doch erst Erwachsen wäre, dann könnte ich endlich selbst entscheiden, was sein muss und was nicht und könnte aufhören, ständig Sachen zu machen, die nicht stimmen, nur damit alle mit mir zufrieden sind.
Doch ich stellte schnell fest, dass dieser Zwang zu Gewohnheiten, zu automatischen Verhaltensweisen, Denkweisen und Handlungsweisen, gar nicht von meinen Eltern aus ging, sondern von Außen kam und sie sich selbst und deshalb auch mich anpassen mussten. Es schien, als gab es dazu keine Alternative, undenkbar, so war das nun einmal.
Also passte ich mich an, war pünktlich bei der Arbeit, feierte die Feste des Jahres, wie alle Menschen gewohnheitsmäßig diese Feste feierten, machte so vieles, weil man es eben so macht.
Doch tief in mir drin, war ich nicht einverstanden, rebellierte es in mir und diese Rebellion wurde mehr und mehr zu einem üblen Aufstoßen. Es war, als sah ich um mich herum überall nur noch programmierte Menschen, mehr automatisch, als wirklich.
Wenn ich darüber sprechen wollte, verstand mich niemand. Mir war, als lösten meine Sichtweisen sogar Empörung, bis hin zu Angst aus – wo kämen wir denn da hin? Die anderen waren mit diesem Zustand scheinbar zufrieden und einverstanden, das war das normale Leben, so kennt man es, so liebt man es, so ist es sicher. Ich fragte mich damals, ob ich vielleicht falsch bin, oder irgendwie gestört, weil das, was die anderen liebten, für mich der Stein des Anstoßes war, es war mir so unerträglich.
Als ich vor 27 Jahren noch jeden Tag zur gleichen Zeit, auf dem gleichen Weg, zu einer Arbeitsstelle musste, wurde ich fast verrückt daran. Es war wie „täglich grüßt das Murmeltier“. Der gleiche Mann kam aus der Bäckerei zu gleichen Zeit, die gleichen Leute in der Straßenbahn. Man kennt sie und man kennt sie nicht. Ich half mir dann, indem ich einmal mit der Bahn, dann mit dem Fahrrad und dann mit dem Auto zur Arbeit fuhr, immer abwechselnd, um diesem stupiden unerträglichen „Murmeltier-Dasein“ zu entkommen. Dabei machte ich das nur zwei Jahre und fragte mich, wie andere Leute sowas ihr Leben lang machen können?
Am wohlsten fühlte ich mich, wenn ich etwas tun konnte, was man eben nicht tut. Dann fühlte ich mich frei, dann fühlte ich, dass es meine Entscheidung war, dass es mein Leben war.
Wie wird Gewohnheit definiert?
Als Gewohnheit (auch Usus, von lateinisch uti „gebrauchen“) wird eine unter gleichartigen Bedingungen entwickelte Reaktionsweise bezeichnet, die durch Wiederholung stereotypisiert wurde und bei gleichartigen Situationsbedingungen wie automatisch nach demselben Reaktionsschema ausgeführt wird, wenn sie nicht bewusst vermieden oder unterdrückt wird. Es gibt Gewohnheiten des Fühlens, Denkens und Verhaltens. (Quelle:Wikipedia)
Wir lernen scheinbar von Klein auf, dass Gewohnheiten das Leben einfacher, sicherer und berechenbar machen und das das gut und wichtig ist, denn sonst würde Chaos entstehen und nichts mehr funktionieren.
Es gibt von Kultur und Gesellschaft geprägte Gewohnheiten, die zu etablierten Verhaltensweisen der Menschenmassen führen. Früher war es hauptsächlich die religiöse und wirtschaftliche Kontrolle, heute ist es die politische Agenda und ganz besonders die Wirtschaft mit ihrer Profitgier die Interesse daran hat, Gewohnheiten zu nutzen und diese mit Produkten und anderen Angeboten zu verknüpfen, die dann von den Menschen gekauft und konsumiert werden, wieder und wieder.
Und viele sind bemüht, neue Gewohnheiten zu erschaffen und zu etablieren, um ihre Agenda umzusetzen, oder ihre Produkte berechenbar absetzen zu können.
Jeder Anbieter, egal ob ein Restaurant, eine Boutique, ein Bäcker, eine Kletterhalle, ein Theater oder ein Friseur, Apotheker, oder Therapeut – alle wünschen sich Kundenbindung und möchten, dass es ihren Kunden zur Gewohnheit wird, wieder und wieder zu kommen, am besten regelmäßig und berechenbar.
Total verständlich, könnte man denken… Aber für mich fühlt sich das ganz furchtbar krank und gefährlich an. Denn genau das findet in sämtlichen Bereichen des Lebens statt und macht Automaten aus uns Menschen. Wenn sich Mensch dann damit noch wohl fühlt, weil das als Sicherheit und Komfortzone definiert wird, dann ist die Programmierung perfekt. Denn dann ist niemand mehr da, der sich daran stören könnte.
Der Unterschied zwischen einem Ritual und Gewohnheit
Mir ist aufgefallen, dass einige Menschen ihre Gewohnheiten als Rituale bezeichnen.
Irgendwie scheint das besonders in spirituellen Kreisen Mode zu sein und klingt wohl besser…
Die Frage ist, ob es tatsächlich das meint, was das Wort Ritual bedeutet?
Ein Ritual (von lateinischritualis ‚den Ritus betreffend‘, rituell) ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Sie wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet und kann religiöser oder weltlicher Art sein (z. B. Gottesdienst, Begrüßung, Hochzeit, Begräbnis, Aufnahmefeier usw.). Ein festgelegtes Zeremoniell (Ordnung) von Ritualen oder rituellen Handlungen bezeichnet man als Ritus. Manche Rituale gelten als Kulturgut. (Quelle: Wikipedia)
Tatsächlich gibt es hier einige Parallelen. Ein Ritual ist meist kein Akt der Selbstbestimmung, sondern das Ausführen von festgelegten Vorgaben, die meist kulturellen und religiösen Praktiken entsprungen sind und wieder und wieder, zu vorgegeben Anlässen vollführt werden. Also auch Programme, bei denen Programmierungen weiter gegeben werden, oder erfüllt werden.
Natürlich kann man sich auch selbst Rituale kreieren. In dem Falle bedeutet es meist, dass man ganz bewusst etwas bestimmtes tut – also kein Automatismus, sondern eine bewusste Wahl und Entscheidung. So hat, wie die Medaille, alles seine zwei Seiten – und wesentlich ist, dass da Bewusstheit über das was geschieht herrscht, sonst ist es eine automatische, unbewusste Teilnahme an etwas, was nicht hinterfragt wird, weil es schon immer so war.
Und so wertvoll ich Traditionen und Kulturgut empfinde, denke ich nicht, dass es gut ist, weiter und weiter zu machen mit Sachen, die ihren Sinn und Wert in unserer Zeit völlig verloren haben. Denn dadurch bekommen wir das nicht zurück. Rituale aufrecht zu erhalten, die nicht zeitgemäß sind, füttert nur die Selbsttäuschung und Lüge.
Ich selbst kann mit festgelegten Ritualen nichts anfangen, ebenso wenig wie mit der Verehrung, Anbetung oder Anrufung in Zusammenhang mit Wesen, Kräften, Symbolen und Praktiken. Immer wenn ich solchen Praktiken beiwohnte, wo Rituale (nach Lehrbuch) ausgeführt wurden – empfand ich das eher gruselig, weil ich das Gefühl hatte, niemand weiß hier, was er da wirklich tut. Es wird etwas kopiert und nachgeäfft – in der Hoffnung die versprochene Wirkung zu erlangen.
So wie man ein Gebet nachspricht, welches nicht dem eigenen Geist entsprungen ist und was man vielleicht nicht mal erfühlt und versteht. Das reine Nachplappern von Etwas, macht noch keinen Heiligen. Doch scheinen die Menschen das Jahrhundertelang so gehandhabt zu haben und manche tun es heute noch.
Gleichzeitig liebe ich den Kontakt zu Wesen, Kräften und Energien und bin wirklich dankbar, dass es sie so spürbar und erfahrbar gibt. Ich liebe es auch Feuer zu machen, im Wind zu tanzen, im Fluss zu schwimmen und dabei gibt es immer wieder auch Impulse, bewusste Entscheidungen, etwas loszulassen, etwas durchzulassen, etwas in Empfang zu nehmen – aber als Ritual kann ich das nicht bezeichnen, weil es nichts mit der Definition von Ritual zu tun hat.
Aber vielleicht wird dieses Wort von Vielen inzwischen einfach neu definiert als: Ein bewusster Akt, sich zu verbinden und geistig auf die Schöpfung einzuwirken 😉 ???
Die Gefahr von Gewohnheiten
Ich habe schon in meinem Blogartikel „Mysterium der Wahrnehmung“ untersucht, wo der Unterschied liegt, zwischen automatischem Denken, Fühlen und Handeln, oder tatsächlicher Wahrnehmung von dem, was wirklich IST. Um so mehr wir in Gewohnheiten gefangen sind, um so automatischer sind unsere Reaktionen auf das Leben. Sie werden so berechenbar, dass die Massen über die Medien tatsächlich fern gesteuert werden können.
Wenn ich etwas aus Gewohnheit tue, dann tue ich es automatisch, ohne zu reflektieren, ohne bewusst wahr zu nehmen, ohne zu fühlen und zu denken. Wenn ich viele Bereiche meines Lebens automatisiert habe und diese Programme einfach immer wiederhole, dann entgleitet mir das wirkliche Leben in seiner Vielfalt, Spontanität, mit all seinen Wundern und Möglichkeiten.
Was ich beobachte ist, dass viele Menschen unglücklich sind, unzufrieden, überfordert und von diffusen Ängsten geplagt, die oft gar nicht zu definieren sind. Um da heraus zu kommen, suchen sie nach Möglichkeiten, nach Lösungen. Doch allzuoft bestehen die Lösungen in zusätzlichen Gewohnheiten. Regelmäßig Meditieren, Sport machen, etwas gesundes essen oder trinken. Es wird also ein neues Programm dazu installiert, was nach einiger Anstrengung in den Alltag integriert und zur Gewohnheit wird. Nicht jedem mag das gelingen, denn um ein neues, selbst gewähltes Programm zu installieren, braucht es eine gehörige Portion Selbstdisziplin. Denn die selbst gewählten Gewohnheiten unterliegen keinem äußeren Zwang. Kein Chef, der mit Kündigung droht, kein Amt, was die Zahlungen einstellt, kein Gesetzeshüter, kein Vermieter, kein Nachbar der sich beschwert.
Diese Art von selbstgewählten „gesunden“ Gewohnheiten wären kein Problem, wenn es den Menschen bewusst wäre, was sie da tun. Denn natürlich ist es wunderbar und macht ganz sicher Sinn, in gewissen Maßen, bestimmte Sachen, für eine bestimmte Zeit zu wiederholen. Solange man auch jederzeit damit aufhören kann, wenn es keinen Sinn mehr macht. Das können aber die Wenigsten. Die neue Gewohnheit bestimmt ab sofort ihren Alltag, gemeinsam mit den anderen vielen Gewohnheiten, aber die Unzufriedenheit, Überforderung und diffusen Ängste bleiben.
Kommt das jemandem bekannt vor?
Jede Gewohnheit, egal ob hilfreich, oder selbstzerstörerisch ist ein Programm und bleibt ein Programm. Egal ob selbst gemacht, oder von außen geprägt.
Ein Leben, welches in der Hauptsache aus Programmen/Gewohnheiten besteht, ist kein selbstbestimmtes, authentisches, lebendiges Leben. Denn diese Gewohnheiten verhindern es, dass gefühlt und gesehen wird was wirklich ist, was es wirklich braucht. Geschweige denn erlauben sie ein sinnvolles, bewusstes reagieren oder handeln auf die Anforderungen des Lebens.
Dadurch entstehen meiner Meinung nach Unzufriedenheit, Überforderung und diffuse Ängste.
Weil klar wird, dass da gar niemand ist, der wirklich handlungsfähig ist und die Verantwortung tragen kann – im Sinne von Antworten auf die täglichen Fragen, die das Leben aufwirft zu finden und alle Herausforderungen zu meistern.
Besonders bedenklich wird es da, wo diese Gewohnheiten zur Sucht werden.
Tatsächlich erscheint mir dazwischen nur ein schmaler Grad.
Wieviel Flexibilität besitzt du wirklich?
Wie unabhängig von deinen Gewohnheiten bist du?
Wenn es dir schwer fällt, deiner Gewohnheit nicht zu folgen, wenn du einen regelrechten Zwang verspürst, zu deiner Gewohnheit zurückkehren zu wollen, dann hast du es soweit gebracht, dass du abhängig bist davon. Dann braucht es einen großen Kraftaufwand und viel Selbstdisziplin, um diese Gewohnheit tatsächlich abzulegen.
Die gute Nachricht ist, dass genau das, das Maß ist, woran wir prüfen können, wie betoniert unsere Gewohnheiten uns im Griff haben, oder wie flexibel und lebendig wir sind und jeder Zeit fähig, neue Entscheidungen zu treffen und aus Wiederholungen auszusteigen, sie nicht zu brauchen, wie die Luft zum Atmen.
Um so länger man eine Gewohnheit gepflegt hat, aufrecht erhalten hat, gefüttert hat, durch ständige Wiederholung, um so schwieriger ist es, sie wieder los zu werden.
Heute denke ich oft, dass meine natürliche Allergie gegen Gewohnheiten mein größter Schatz ist, auch wenn ich früher dachte, es wäre eine dumme Störung. Denn dadurch kann es mir einfach nicht passieren, mich an irgendetwas zu gewöhnen und ein Programm daraus zu machen. Obwohl ich alles mögliche Gesunde und auch Ungesunde tue – aber nichts davon in Form von ständiger Wiederholung. Denn wenn ich es mehrfach wiederholt habe, finde ich es so doof und nervig, dass ich damit aufhören will. Was nicht heisst, dass ich nie wieder Schokolade esse, wenn ich 3 Tage hintereinander eine ganze Tafel verdrückt habe. Aber es könnte mir nicht passieren, dass ich das wochenlang oder jahrelang so tun würde und es täglich bräuchte und mich gleichzeitig ärgerte, es gar nicht wollte, es aber nicht lassen könnte.
Als hätte ich durch diese Allergie einen natürlichen Schutzschalter vor Gewohnheiten jeder Art.
Doch auch die Menschen, die so einen Schutzschalter nicht haben, können den auf Wunsch nachrüsten – denke ich, wenn sie es wollen.
Mein Gefühl ist, sobald wirklich zutiefst gesehen und gefühlt wird, was Gewohnheiten mit uns Menschen wirklich machen und dadurch das Grundprogramm durchbrochen wird, dass Gewohnheiten wichtig sind und Sicherheit bedeuten, dieser Schutzschalter installiert wird.
Denn ab dem Moment, wo das zutiefst erkannt wird, sieht man es plötzlich überall, es springt einen regelrecht an und man sieht die Zusammenhänge, die Ursachen und Wirkungen und kann da einfach nicht mehr mitspielen.
Der Satz: „Das ist wirklich gut und schön – sollte aber nicht zur Gewohnheit werden!“ sagt das Wesentliche aus. Denn wenn es zur Gewohnheit geworden ist, läuft es automatisch und es wiederholt sich auch automatisch – um das dann zu erkennen und zu stoppen, braucht es meist einen Stolperstein, einen Wink mit dem Zaunpfahl, oder Heftigeres.
Und für all die Menschen, die mit ihren Gewohnheiten glücklich und zufrieden sind, sich ein Leben ohne diese gar nicht vorstellen wollen, ist das sicher auch ganz und gar in Ordnung.
Denn wir sind ja alle verschieden. Das was für den Einen der Tod ist, ist des anderen Segen und umgekehrt 🙂
Nimm dir wie immer nur das, was dich unterstützt und lass den Rest gern bei mir.
Denn die meisten Dinge haben mehr als zwei Seiten und ich schaue auch nur durch meine subjektive Brille 😉 Ich freue mich wie immer über eure Kommentare und eigenen Sichtweisen und Erfahrungen dazu.